Die Vorleserin

„Ich kann überall hinkommen, ich kann mich zu Dir in die Küche setzen und Dir eine andere Welt zaubern.“

 

Viktoria Meienburg, das bin ich. Ich wurde 1951 in Berlin geboren. Dort besuchte ich nach dem Gymnasium die Schauspielschule. Mit 19 Jahren stand ich bereits auf der Bühne des Berliner Hebbeltheaters. Es folgten Anfängerjahre außerhalb Berlins, später Tourneen und Engagements quer durch Deutschland. Hinzu kamen immer wieder Film- und vor allem Fernsehrollen.

Eine Freundin, Malerin, suchte in den 90zigern für ihre Malklasse in der Armgartstraße in Hamburg ein, wie sie sagte“charismatisches Modell“. Das fand ich spannend, ich nahm an, aber nur so stumm dasitzen, das war mir dann doch zu langweilig. So begann ich mich für die Sitzungen jedes Mal anders anzuziehen und den Malschülerinnen und -schülern Kunstmärchen von Oscar Wilde vorzulesen. Daraus wurde eine ganz besondere Ausstellung und die Geburtsstunde für
Die Vorleserin.

Lesen vor kleinem oder großen Publikum, fast immer im Kostüm und einem minimalen Bühnenbild, ist meine Leidenschaft, aus Romanen, Gedichte, Geschichten, Märchen, oder Themenabende, ja, auch aus Kochbüchern mit anschließendem Mahl. Und Musik ist fast immer dabei: Cello, Harfe, Saxophon, Akkordeon, Klarinette oder Flügel. Oder gar ein Kammerorchester. Ich las schon Goethe im ICE nach Weimar, mit den Märchen aus 1001 Nacht kam ich bis in die Wüste Arabiens und nach Tunesien, ich las schon mehrere Male Dostojewski, Puschkin und Brodsky an Originalschauplätzen in St. Petersburg, und auf einem einsamen Berg in Österreich.
Mit Oscar Wilde hat es in der Armgartstraße angefangen, es folgten so viele Autoren und besonders auch Autorinnen aus England und Irland, William Shakespeare, Charles Dickens, Charlotte, Emily und Anne Brontë, Jane Austin, Katherine Mansfield, Iris Murdock. Inzwischen bin ich Spezialistin für englische Literatur und für Frauenbilder der Zeit.
Das Vorlesen brachte mich durch ein besonderes Erlebnis in die Trauerarbeit, eine alte Dame brach zusammen, sie erinnerte sich, dass sie mit ihrer besten Freundin, die Jüdin war, nie wieder ein Wort gewechselt hatte, nachdem das Gesetz herauskam, dass der Umgang mit Juden verboten war. Da wollte ich Sterbenden vorlesen, verschüttete Erinnerungen hervorlocken. So wurde ich Sterbebegleiterin. Fast zur gleichen Zeit starb die Mutter einer Freundin, der Pfarrer wollte die letzten Wünsche der Verstorbenen nicht erfüllen, so kam es, dass die Trauerrede gemeinsam mit der Freundin entstand und ich meine erste Trauerrede hielt. „Das ist die Vertretung vom Pfarrer“, hörte ich die Trauergäste sagen…

Und dann kam die erste Hochzeit. Von den Trauerreden zu den Traureden… Glückliche Menschen noch glücklicher machen, was kann es Schöneres geben!
Und wenn ein Kind einen Namen bekommt und auf der Welt willkommen geheißen wird, leite ich gerne diese Zeremonie.

„Ich kann überall hinkommen, ich kann mich zu Dir in die Küche setzen und Dir eine andere Welt zaubern.“,
das ist mein Motto, das Motto der Vorleserin.